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Die Kinder von Avalon (Leseprobe)


»Setzt euch her, und ich werde euch von Llew Llaw Gyffes erzählen, dem Löwen mit der sicheren Hand, dem Herrn des Speeres ...«

Da es weder Bänke noch Stühle in dem Raum gab, außer dem Schemel, auf dem Arianrhod saß, ließen sie sich auf den Boden nieder: Gunhild immer noch wie in Trance, Siggi mit einem verwunderten Blick in den Augen, als träume er, und Hagen mit einem misstrauischen Stirnrunzeln, aber genauso interessiert. Nur der Alte blieb stehen; er stützte die Arme auf das Knie, bis sein Kopf fast auf derselben Höhe wie Arianrhods Gesicht war, als wolle er ihr jedes Wort von den Lippen lesen.

»Mâth mab Mathonwy suchte eine Jungfrau in jenen Tagen ... aber das wisst ihr bereits, wie mir scheint. Jedenfalls gingen wir, mein Bruder Gwydion und ich, miteinander zu Rate, und wir beschlossen, dass ich den Versuch machen sollte, Mâths Fußhalterin zu werden. Denn wir wussten um die Gefahr, die darin lag, dass die vier Schätze der Welt noch in den Händen Arawns waren, und wir hofften, wenn ich erst das Vertrauen von Mâth besäße, dann würde ich auch einen Weg erfahren, wie wir an jenem geheimen Ort am Ende der Welt gelangen könne, wo sie verborgen waren – und von dort wieder zurück.

Was damals geschah und warum, das weiß ich bis heute nicht. Denn ich schwöre, beim Namen meiner Mutter, der Göttin Dôn, dass ich noch mit keinem Mann zusammen gewesen war. Und dennoch gebar ich Dylan, und er war wie ein junger Mann, als er geboren wurde, kräftig und stark, und sogleich suchte er seinen Weg zum Meer ... aber auch das wisst ihr gewiss, da ihr ihm begegnet seid.

Doch zugleich mit ihm gebar ich etwas anderes, ein unfertiges Ding, und ich glaubte, es sei tot geboren. Gwydion nahm es an sich und hüllte es in seinen Mantel, und ich glaubt, das geschehe nur, um mir den Schmerz dieses Anblicks zu ersparen. Und so zog ich mich zurück nach Caer Arianrhod und nährte meinen Schmerz.

Dann, eines Tages, kam er zu mir. Er kam in Begleitung eines Knaben. Der Junge sah aus, als wäre er schon acht, aber er war erst vier. ›Dies ist dein Sohn‹, sagte er, ›und der meine.‹«

»Und warum auch nicht?«, warf ihr Bruder ein. »Ich habe ihn ausgebrütet, in einem Kasten, weil er noch nicht lebensfähig war. Bin ich somit nicht mehr als ein Vater für ihn gewesen? Ich besorgte ihm eine Amme. Ich lehrte ihn alles, was er wissen musste. Er wuchs schneller heran als jedes Kind, das ich je gekannt hatte. Sollte ich nicht stolz auf ihn sein? Und so brachte ich zu dir, seiner Mutter. Aber du weigertest dich ...«

»Ich wollte nicht an jenen Schmerz erinnert werden. Und so erlegte ich ihm das Schicksal auf, dass er nie einem Namen haben sollte außer von mir. Doch ich hatte nicht mit der Klugheit Gwydions des Listenreichen gerechnet.«

»Ich war entschlossen, meinem Sohn einen Namen zu verschaffen«, fuhr dieser fort. »So ging ich am nächsten Tag hinab zum Strand vor Caer Arianrhod. Ich gab mir das Aussehen eines Schuhmachers und ihm das meines Lehrlings. Und ich begann Schuhe zu machen aus Seegras und Tang, doch sie sahen aus wie von feinstem Leder. Und als Arianrhod von den wunderbaren Schuhen des reisenden Schuhmachers hörte, sandte sie mir einen Leisten, ein Stück Holz von der Länge ihres Fußes, damit ich ein Paar Schuhe für sie machen sollte. Ich machte sie aber mit Absicht zu klein. Und wieder schickte sie mir ihren Leisten, doch diesmal machte ich die Schuhe zu groß. Beim drittenmal kam sie schließlich selbst, und als sie am Strand saß, um sich Maß nehmen zu lassen, kam ein Reiher vorbeigeflogen. Und der Knabe nahm einen Bogen und schoss einen Pfeil, und der Pfeil traf den Vogel zwischen Bein und Sehne. Da sprach sie: ›Mit einer sicheren Hand hat der Löwe ihn getroffen.‹ Da lachte ich und sprach: ›Du sagst es. Und Llew Llaw Gyffes soll sein Name sein.‹«

»Darüber war ich sehr erzürnt«, fuhr Arianrhod fort, »und so erlegte ich ihm ein neues Schicksal auf: dass er niemals Waffen erhalten solle außer von mir.«

»Aber auch das wusste ich zu umgehen«, erklärte Gwydion. »In der Gestalt zweier Barden ging ich mit meinem Sohn nach Caer Arianrhod, und durch einen Zauber schuf ich die Illusion, als würde die Burg von Feinden angegriffen. Die Herrin der Burg gab uns Waffen, sie zu verteidigen, und so überlistete ich sie erneut.«

»Und so tat ich meinen dritten Spruch, dass er niemals eine Frau finden solle, die vom Weib geboren ist. Und dieses Schicksal zu bezwingen ging selbst über die Macht Gwydions des Zauberkräftigen hinaus.«

»Und so ging ich zu Mâth mab Mathonwy, dem alten Weisen. Und dieser, der sah, dass viele Schicksale an dieser Frage hingen, sprach zu mir: ›Es gibt nur einen Weg: Wir müssen eine Frau für ihn schaffen.‹ Und so vollbrachten wir das größte Werk der Magie: einen Menschen schufen wir aus den Blüten der Eiche, des Ginsters und der kleinen Sommersterne, die an den Hängen blühen; aus ihnen schufen wir die schönste Maid, die je auf Erden wandelte, und nannten sie Blodeuwedd, das heißt Blumengesicht. Und Llew nahm sie zur Frau, und so lebten sie einen Sommer lang in Glück und von allen geliebt.«

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»So schien es«, sagte Arianrhod. »Doch dann kam der Winter, und Mâth der Alte rief uns alle zu sich, weil er es an der Zeit sah, sich aus den Belangen dieser Welt zurückzuziehen und sein Königtum an einen anderen zu übergeben.«

»Es war die letzte Zusammenkunft der Kinder Dôns, und auch wenn sie nur ein Abglanz der alten Zeiten war, so war sie doch prächtig über alle Maßen. Und Mâth der König ließ uns schwören, dem neuen Herrscher von Prydain treu zu sein, auf wen immer seine Wahl auch fiele, und wir alle leisteten diesen Eid. Dann sagte er uns, dass Llew der Erwählte sei. Doch währenddessen braute sich über ihm Unheil zusammen ...«

Hagen sah auf, und sein scharfes Auge fing den Blick Arianrhods ein. Doch diese schüttelte den Kopf, als ob sie in seinen Augen las, was er dachte.

»Nein«, sagte sie, »es war nicht mein Tun. Ich hatte mit den anderen den Eid geleistet, und in meinem Herzen hatte ich ihm längst verziehen. Es war Blodeuwedd, die ihres schönen Namens und Ursprungs nicht würdig war. Denn während Llew am Hofe Mâths weilte, kam ein Fremder zu ihr. Sobald Blodeuwedds Auge auf ihn fiel, entbrannte sie für ihn in Leidenschaft. Schon in der ersten Nacht schliefen sie miteinander und in der zweiten und dritten. Und dann planten sie zusammen, wie sie Llew erschlagen könnten. Doch das war nicht so einfach, nicht wahr?«

»Nein«, nahm ihr Bruder den Faden wieder auf. »Denn wie seine Geburt nicht natürlich gewesen war, so war er auch nicht auf natürliche Weise zu töten. Nicht in einem Hause noch außerhalb, nicht zu Pferd und nicht zu Fuß und nur mit seinem eigenen Speer.«

»Und als Llew nach Hause kam, da sagte Blodeuwedd zu ihm, sie habe Angst, wenn sie ohne ihn sei und dass er vor ihr aus dem Leben scheiden könne. Und sie bat ihn, er möge ihr doch zeigen, wie er zu töten sei, damit sie ihn besser davor schützen könne.«

Siggi schnaubte, und Arianrhod blickte ihn erstaunt an. »Diese Geschichte habe ich auch schon einmal gehört«, meinte er. »Dort, wo ich herkomme.« Doch er sagte ihr nicht, dass es Hagen gewesen war, in der Sage von den Nibelungen, der Siegfrieds Frau Kriemhild so bedrängte, und dass dies Siegfrieds Tod herbeigeführt hatte.

Arianrhod sah ihn nur nachdenklich an und fuhr fort: »Also ließ Llew ein Bad am Ufer des Flusses richten und den Bottich mit einem Dach bedecken und gut und fest mit Schilf versehen, und er ließ einen Bock herbeiführen und ihn neben den Rand des Bottichs stellen. Und er stellte einen Fuß auf den Rand des Bottichs und einen anderen auf den Rücken des Bocks.«

»Was für eine unmögliche Stellung!«, rief Siggi aus.

»So kann er es doch nur Sekunden lang ausgehalten haben«, fügte Hagen hinzu.

»Aber es genügte. Der Speer, der aus dem Dunkel kam, traf ihn in die Seite, sodass die Spitze stecken blieb, der Schaft aber abbrach. Dann flog Llew auf in Gestalt eines Adlers und ward nicht mehr gesehen.«

»Und das war sein Ende?«, meinte Gunhild traurig.

Alle sahen sie an, weil sie bislang nur vor sich hin gestarrt hatte. Doch jetzt lief eine Träne über ihre Wange, und sie war aus ihrem Bann erwacht.

»Nein, dies war nicht das Ende«, sagte der Alte, und seine Stimme war wieder schwer und volltönend: die Stimme Taliessins, des Barden. »Denn Gwydion hörte davon am Hofe Mâths, und er schwor sich, nicht eher zu ruhen, bis er Llew gefunden habe, tot oder lebendig. Neun Tage und neun Nächte suchte er nach ihm, und am zehnten Tag kam er an eine hohe Eiche, an der äußersten Grenze Prydains, und sah darauf einen Adler, der schwer verwundet war. Da sang Gwydion folgendes Lied:

Eiche, die unter dem Steilhang steht;
verdunkelt sind Himmel und Erde!
Sollt' ich nicht an seinen Wunden erkennen,
wer dort hängt?


Da kam der Adler in die Mitte des Baumes herab. Gwydion sang:

Eiche, die in der Hochland-Erde wächst,
ist sie nicht vom Regen genässt? Wurde sie nicht gebadet
in neun mal neun Stürmen?
In ihren Ästen trägt sie Llew Llaw Gyffes.


Da kam der Adler herab bis auf den untersten Ast des Baumes. Gwydion sang:

Eiche, die zwischen zwei Ufern steht;
stattlich und majestätisch anzusehen!
Sollte ich es nicht aussprechen,
dass Llew auf meinen Schoß kommen wird?

Und der Adler kam auf Gwydions Knie. Und Gwydion rührte ihn mit seinem Zauberstab an, sodass er wieder menschliche Gestalt annahm. Und nie gab es einen erbärmlicheren Anblick als ihn, denn er war nichts als Haut und Knochen. Aber er lebte ...«