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E. R. Eddison


Der Wurm Ouroboros (Leseprobe)


Nun hatte das Schiff nahe dem Wassertor angelegt, und die Fürsten von Hexenland gingen mitsamt ihrem Gefolge an Land, und das Tor ward ihnen aufgetan, und in einem Trauerzuge zogen sie in die Feste ein und stiegen den steilen Aufgang zum Palas empor. Mit sich trugen sie als eine traurige Last ihren König. Und in der großen Halle von Carcë wurde Gorice XI. für jene Nacht aufgebahrt, und der Tag neigte sich seinem Ende zu. Von König Gorice XII. indes war kein Wort zu hören.

Als aber die Schatten der Nacht herniedersanken, kam ein Kammerherr zum Fürsten Gro, derweil dieser sich auf der Terrasse vor dem Westflügel des Palastes erging, und der Kammerherr sprach: »Euer Liebden, der König ersucht Euch, ihm im Eisernen Turm Eure Aufwartung zu machen, und er lässt Euch sagen, Ihr möget ihm die Königskrone von Hexenland bringen.«

Gro eilte, dem Befehl des Königs zu gehorchen, und begab sich in die große Festhalle, und ehrfurchtsvoll nahm er die eiserne Krone von Hexenland, die mit unermesslich kostbaren Juwelen besetzt war, in die Hände und stieg eine gewundene Treppe zum Turm hinauf. Der Kammerherr ging ihm voran. Als sie auf dem ersten Absatz angelangt waren, klopfte der Kammerherr an eine massive Tür, die alsgleich von einer Wache aufgetan wurde, und der Kammerherr sprach zu Gro: »Euer Liebden, es ist des Königs Wille, dass Ihr Seine Majestät in seiner geheimen Kammer an der Spitze des Turmes aufsucht.« Und Gro verwunderte sich, denn seit vielen Jahren hatte niemand jene Kammer betreten. Vor langer Zeit hatte Gorice VII. dort verbotene Künste gepflogen, und im Volke hieß es, dass er in jener Kammer die Geister beschworen habe, welche ihm zum Verhängnis wurden. Seitdem war die Kammer versiegelt, und die Könige von Hexenland hatten sie nie wieder benutzt; denn wenig Vertrauen hatten sie in die Kunst der Magie gesetzt und sich lieber auf die Macht ihrer Hände und des Schwertes von Hexenland gestützt. Aber Gro wurde es froh ums Herz; denn die Öffnung der Kammer kam seinen Absichten auf halbem Wege entgegen. Furchtlos stieg er die Wendeltreppe hinauf, die von den Schatten der einbrechenden Nacht verdüstert und mit Spinnweben verhangen und dem Staub des Vergessens bedeckt war, bis er zu der kleinen, niedrigen Tür der Kammer kam, und er hielt ein und klopfte an und lauschte auf eine Antwort.

Und eine Stimme rief von innen: »Wer klopfet da?«, und Gro antwortete: »Herr, ich bin es, Gro.« Und die Riegel wurden zurückgezogen, und die Tür tat sich auf, und der König sprach: »Tritt ein.« Und Gro trat ein und stand dem König gegenüber.
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Die Kammer nun war von solcher Art, dass sie rund war, dieweil sie den ganzen Raum im obersten Geschosse des runden Bergfrieds einnahm. Es war inzwischen Abend geworden, und nur durch die tiefen Laibungen der schmalen Fenster, die in den vier Himmelsrichtungen in die Mauern des Turmes eingelassen waren, drang mattes Zwielicht. Ein Kohlenbecken in dem großen Kamin warf einen unsteten Schein in das Innere der Kammer und enthüllte seltsame Formen aus Glas und irdenem Geschirr, Flaschen und Retorten, Waagen, Stundengläser, Schmelztiegel und Astrolabien, einem monströsen, dreihalsigen Destillierhelm aus phosphoreszierendem Glas, der in einem Bain-Marie stand, und andre Instrumente von zweifelhafter und unheimlicher Erscheinung. Unter dem nördlichen Fenster, gegenüber dem Eingang, befand sich ein massiver, von Alter geschwärzter Tisch, auf dem große, in schwarzes Leder gebundene Bücher mit eisernen Bügeln und schweren Vorhängeschlössern lagen. Und in einem hohen Stuhl neben diesem Tisch saß König Gorice XII., gehüllt in seine Zauberrobe aus Schwarz und Gold, und stützte seine Wange in eine Hand, welche mager war wie eine Adlerklaue. Das Dämmerlicht, Mutter des Schattens und der Geheimnisse, das jene Kammer erfüllte, flackerte um die reglose Gestalt des Königs, seine Nase, die gekrümmt war wie ein Adlerschnabel, sein kurzgeschnittenes Haar, seinen dichten, gestutzten Bart mit glattrasierter Oberlippe, seine hohen Wangenknochen und grausamen, schweren Kinnbacken und die dunklen Firste seiner Brauen, aus deren Schatten der grüne Schimmer seiner Augen den Außenstehenden als kaum freundliche Leuchte entgegenglomm. Die Tür schloss sich ohne einen Laut, und Gro war allein mit dem König. Die Dämmerung vertiefte sich, und der Feuerschein pulsierte und blinkte in jener Kammer des Schreckens, und der König lehnte bewegungslos auf seine Hand, den Blick auf Gro gerichtet; und es herrschte Totenstille bis auf das leise Schnurren der Glut im Kamin.

Schließlich sprach der König: »Ich habe nach dir gesandt, weil du allein so beherzt warst, dem Könige, der nun tot ist, Gorice XI. ruhmreichen Angedenkens, deinen Rat hartnäckig aufzudrängen. Und weil dein Rat gut war. Wundert dich nicht, dass ich von deinem Rate weiß?«

Gro sprach: »O mein Herr König, es wundert mich nicht. Denn ich weiß, dass die Seele unvergänglich ist, wenn auch der Leib zugrunde geht.«

»Hüte deine Zunge vor allzu raschen Worten«, sprach der König. »Dies sind Mysterien, an die nur zu denken dein Verderben sein könnte, und wer immer davon spricht, und sei es auch nur an einem so geheimen Ort wie diesem und mit mir allein, spricht doch auf größte Gefahr für sein eignes Leben.«

Gro antwortete: »O König, ich sprach nicht leichtfertig; zudem habt Ihr mich durch Euer Fragen versucht. Nichtsdestotrotz werde ich die Warnung Eurer Majestät zu beherzigen wissen.«

Der König erhob sich von seinem Stuhl und kam langsam auf Gro zu. Er war außergewöhnlich groß und hager wie ein halbverhungerter Kormoran. Er legte Gro die Hände auf die Schultern und sprach, während er sich zu ihm hinunterbeugte: »Hast du denn keine Angst, mit mir in diesem Raume zu weilen, wenn der Tag sich neiget? Oder hast du nicht darüber nachgedacht und über diese Instrumente, die du siehst, über ihren Gebrauch und Nutz und den Zweck, den diese Kammer einst gehabt?«

Gro aber wich nicht um ein Haar, sondern sprach fest: »Ich habe keine Angst, o mein Herr König; vielmehr erfüllte Euer Befehl mich gar mit Freude. Denn es kommt meinen eignen Plänen zupass, da ich im Innersten meines Herzens mit mir zu Rate ging nach dem Missgeschick, welches die Schicksalsgöttinnen Hexenland auf den Foliot-Inseln zuteilwerden ließen. Denn an jenem Tage, o König, als sich das Licht Hexenlands verdunkelte und seine Macht im Falle Gorice’ XI. ruhmreichen Gedenkens darniederlag, da gedachte ich Euer, Herr, des zwölften Gorice auf dem Thron von Carcë, und es kam mir das Wort des alten Sehers in den Sinn, der da singt:

Zehne / Ylfe / Zwelf ich seh’ /
Männiglicher Abfolge /
An Stärcke groß und Meisterschafft
An Schwert / und Arm / und Zauberkrafft:
In der Veste zu Carcë
Herrschen sie als Könige.

Und eingedenk dessen, dass er Euch als den Zwölften als groß an Zauberkraft hervorgehoben hat, war all mein Bestreben, jene Dämonen innerhalb der Reichweite Eurer Zaubersprüche aufzuhalten, bis wir Zeit hätten, heim zu Euch zu eilen und Euch von ihren Untaten zu berichten, um Euch also in Stand zu setzen. Eure Macht zu entfalten und Eure Feinde mittels schwarzer Magie zu vernichten, ehr sie die Küste des gebirgichten Dämonenlandes erreichen.«
Der König zog Gro an seine Brust und küsste ihn und sprach: »Bist du nicht ein wahres Juwel an Weisheit und Voraussicht? Ob dessen will ich dich umarmen und ewiglich ehren!«

Dann trat der König einen Schritt zurück, die Hände auf Gros Schultern gelegt, und blickte ihn eine Zeitlang in Schweigen an. Dann zündete er eine Kerze an, die in einem eisernen Ständer neben dem Tisch stand, wo die Bücher lagen, und hielt sie Gro ins Gesicht. Und der König sprach: »Ja, Weisheit besitzest du und Vorsicht und auch ein gehörig Maß an Mut. Doch wenn du mir in dieser Nacht dienen willst, so muss ich dich erst mit Schrecken läutern, bis sie dir nichts mehr anhaben können, so wie Gold im Kessel geläutert wird, oder, wenn du aus geringerem Metalle sein solltest, du von ihnen verzehrt würdest.«

Da sprach Gro zum König also: »Viele Jahre, Herr, lange bevor ich nach Carcë kam, wanderte ich hie und dort in der Welt umher, und Dinge des Schreckens sind mir vertraut wie einem Kind sein Spielzeug. Ich habe in den südlichen Meeren, in den Wirbeln von Korsch, im Lichte von Achernar und Kanopus, riesige Seepferde mit achtarmigen Kraken kämpfen sehen. Und doch hatte ich keine Angst. Ich war auf der Insel Ciona, als sich die Tiefen öffneten auf jener Insel und sie spalteten, wie ein menschlicher Schädel von der Axt gespalten wird; und die grünen Klüfte des Meeres verschlangen jene Insel, und der Gestank und der Dampf, wo Fels und Erde brennend im Meer verzischt waren, hingen tagelang in der Luft. Und doch hatte ich keine Angst. Und dreißig Tage und dreißig Nächte wanderte ich allein auf dem Antlitz der Moruna in Oberwichtland, wo kaum eine lebende Seele gewesen; und die Unholde, welche die Luft jener Öde bevölkern, hemmten meinen Schritt und redeten irres Geschwätz in der Dunkelheit. Und doch hatte ich keine Angst und kam zu guter Letzt nach Morna Moruna, und von dort, am Rande des Abgrunds wie am Ende der Welt, erblickte ich gegen Süden, was keines Sterblichen Auge je geschaut: die undurchdringlichen Wälder des Bhavinan und jenseits, in der Bläue des Himmels, Kette um Kette eisbedeckter Berge und dahinter zwei Gipfel, die auf ewig zwischen festem Land und dem Himmel in überirdischer Schönheit thronen: die Zacken und luftigen Grate des Koschtra Pivrarcha und die steilen Wände, die sich aus unerforschlichen Klüften aufschwingen zu jener schweigenden Königin der Berge, der weißen Kuppel des Koschtra Belorn.«