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Die Kinder der Nibelungen (Leseprobe)


»Als die Götter die Welt geordnet hatten, lebten sie in Frieden in Asgard, jenseits der Grenzen der Mittelerde. Ihr Herrscher war Tyr, der Gerechte, und er schlichtete jeglichen Streit in der Halle, die man Frohheim nannte, von seinem hohen Sitz, von dem aus man das ganze Universum überschauen konnte. Und es herrschte Frieden auf der Welt.

Doch unter den Asen war einer, der weiter blickte als die anderen und der wusste, dass der Friede nicht ewig dauern würde. Denn seine Hände waren noch befleckt mit dem Blut Ymirs, mit dessen gewaltsamem Tod die Welt entstanden war. Nennen wir ihn Ygg, den Schrecklichen; denn es geht hier um den Baum, den man Yggdrasil, Yggs Streitross, nennt, und wie dieser zu seinem Namen kam. Man nennt ihn auch die Weltenesche.«

»Wo kommt die jetzt auf einmal her?«, fragte Siggi, der bei den ganzen alten Geschichten irgendwie den Überblick verloren hatte.

»Ich habe keineswegs die Absicht, euch zu sagen, woher der Weltenbaum kam«, meinte der Graue verärgert. »Er ist einfach da. Ihr könnt ihn nicht sehen, aber ihr dürft mir glauben, dass es ihn gibt. Denkt einfach an eine Kraft, die so ist wie die Anziehungskraft zwischen einem Magneten und einem Stück Eisen. Man kann sie nicht sehen, aber sie ist vorhanden. Für Sterbliche ist Yggdrasil gewiss unsichtbar, aber ohne die Kraft des Weltenbaumes würde alles auseinander fallen und sich in der Unendlichkeit verlieren.

Die Esche Yggdrasil ist von allen Bäumen der größte und ragt über alle neun Welten und selbst über den Himmel hinaus. Sie ist aus einem Stoff gemacht, der härter als Eisen ist, und doch nagt ein Hirsch ewig an ihrer Krone, und ein Wurm frisst ewig an ihrer Wurzel. Nur die Macht der Runen vermag sie zu bezwingen.

Drei Wurzeln hat der Weltenbaum: An der ersten Wurzel liegt der Brunnen der Nornen, der drei Schwestern des Mondes, die das Schicksal der Menschen bestimmen und auch, wie manche meinen, das der Götter. Dort saß Ygg oft und lauschte schweigend ihren Reden. Die zweite Wurzel reicht hinab in einen Quell, der so tief ist, dass keiner seinen Boden kennt; doch an seinem Grunde liegt Gold und in seinem Wasser Weisheit. Die dritte Wurzel aber führt in einen brodelnden Pfühl, in dem Jörmungand ihren Ursprung hat, die Schlange, die sich um die ganze Welt windet und am Ende der Zeit sich erheben wird.

Nun begab es sich, dass aus dem Westen neue Götter herbeikamen, von denen die Nornen nichts wussten. Sie nannten sich Wanen; ihr König war Njörd, und seine Kinder hießen Frey und Freya. Sie waren Götter des Lebens und der Fruchtbarkeit. Eines Tages schlich sich Frey aus Übermut in die Halle Frohheim und nahm auf dem hohen Sitz Tyrs Platz, und von dort schaute er bis in die Fernen von Jötunheim und erblickte eine wunderschöne Maid, zu der er in Liebe entbrannte. Daraufhin zog er aus, sie zu gewinnen. Ihr Name war Gerda, und sie folgte ihm aus freien Stücken nach Wanenheim, ohne das Wissen ihrer Eltern. Doch Tyr, der von seinem Übermut erfahren hatte, ließ eine Mauer um Asgard errichten und verkündete, jeder, der sie ohne sein Geheiß überschreite, müsse des Todes sein.

Aber es war nicht Frey, den man vor seinen Richterstuhl schleppte, sondern eine Riesin, Gerdas Mutter, Gullweig genannt, die auf der Suche nach ihrer Tochter bis ins Asenheim gelangt war. Und die Asen vollzogen an ihr den Richterspruch und banden sie auf den Scheiterhaufen; dreimal verbrannte man sie, da sie drei Leben hatte, und als sie verkohlt war, stieß Tyr selbst ihr das Schwert ins Herz.

Als die Wanen hörten, was geschehen war, trafen sie sich mit den Asen zu feierlichem Rat und verlangten Genugtuung. Denn nun, da Frey und Gerda den Bund der Ehe geschlossen hatten, war Gullweig eine Sippenverwandte der Wanen geworden, obgleich sie eine üble Hexe gewesen, und daher waren die Wanen gezwungen, ihren Tod zu rächen oder zumindest ein Blutgeld zu verlangen. Doch Tyr sprach: ›Was Recht ist, muss Recht bleiben.‹

So kam Krieg in die Welt. Beide Seiten waren ungefähr gleich stark, und mal war das Kriegsglück auf der Seite der Wanen, mal auf der Seite der Asen. Doch schließlich wurde der Burgwall der Asen gebrochen, und die Wanen hielten das Feld. Wieder gingen die Berater zu den Richterstühlen und hielten Rat. Und die Klügeren von ihnen wiesen darauf hin, dass jederzeit die Riesen zurückkehren könnten, während alle schutzlos dalägen, und so vereinbarte man einen Waffenstillstand. Tyr bot den Wanen an, Geiseln zu tauschen, um den Frieden wiederherzustellen.

Infolgedessen gingen zwei der Asen, Mimir und Hönir, zu den Wanen, und Njörd und seine Kinder Frey und Freya sowie Gerda wohnten von nun an in Asgard.

Doch bald merkten die Wanen, dass Mimir zwar von großer Weisheit war, doch Hönir einfältig, und so hatten sie das Gefühl, beim Tausch von den Asen betrogen worden zu sein. Aus Zorn darüber ergriffen sie Mimir, schlugen ihm den Kopf ab und schickten diesen den Asen.

Da nahm Ygg Mimirs Haupt, hüllte es in Kräuter und stieg damit hinab an die Quellen des Weltenbaumes. Und als er das Haupt in den Wasserfall tauchte, der die Quelle Odhrörir speist, da öffnete Mimir die Lippen und sprach: ›Wer die Weisheit sucht, muss einen Preis bezahlen.‹«

Die Stimme des Erzählers hatte die Kinder so eingelullt, dass sie kaum noch darauf achteten, wohin der Weg sie führte. Es war keiner der Hauptwege; denn er wand sich durch das Gestein wie eine Schlange. Es gab auch nur wenige Abzweigungen. Doch jetzt waren sie auf einem hohen Sims angelangt, von wo aus ein Wasserfall in die Tiefe stürzte, um sprudelnd in einem unterirdischen Teich zu enden.

Siggi schwindelte, als sein Blick dem hinabfallenden Wasser folgte, und fast wäre er gefallen, hätte der Alte ihn nicht am Arm gepackt.

»Obacht«, sagte er. »Nicht jeder Wasserfall birgt Weisheit.«

»Hier entlang«, wies ihnen Laurion den Weg.

Sie folgten ihm, bis der Steg sich verbreiterte und zu einem in den Fels gehauenen Eingang führte, flankiert von zwei Bäumen, die sich im ungewissen Dämmerlicht, welches von dem fließenden Wasser widerspiegelt wurde, in einer sanften Brise zu bewegen schienen. Doch als sie näher herantraten, sah man, dass es sich nur um steinerne Reliefs handelte, die aus dem Fels herausgemeißelt worden waren.

Hinter dem Tor war eine Kammer in den Felsen eingelassen, und zwei Wachen standen dort, in grauen Kleidern und mit silbernen Kettenrüstungen und Helmen, die Kopf, Hals und Wangen bedeckten. Sie hielten Speere in den Händen, mit denen sie den Weg versperrten. Doch auf ein paar geflüsterte Worte Laurions machten sie bereitwillig Platz.

»Hier beginnt das Reich der Verborgenen Königin«, erklärte der Lios-alf. »Nun ist es nicht mehr weit bis zu unserem Ziel. Folgt mir.«

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Während sie den Stollen hinuntergingen, ließ Gunhild kein Auge von dem alten Erzähler. Als er keine Anstalten machte, mit seiner Geschichte fortzufahren, sondern nur stumm und in sich gekehrt weiterschritt, schwer auf seinen Stab gestützt, fragte sie leise: »Und hat er den Preis bezahlt?«

Als der Alte weitersprach, klang seine Stimme seltsam fremd, wie in Trance:

»Ich weiß, dass ich hing / am windigen Baum
Neun lange Nächte
Vom Ger verwundet, / dem Gott geweiht,
Mir selber ich selbst,
Am Ast des Baums, / dem man nicht ansehn kann,
Aus welcher Wurzel er spross.
Sie boten mir / nicht Brot noch Met;
Da neigt’ ich mich nieder,
Nahm Runen auf, / nahm sie ächzend:
Da fiel ich ab zu Erde.


Ja«, fuhr er fort, »er hat den Preis bezahlt, und Mimirs Mund sagte ihm, was zu tun sei. So bestieg er Yggdrasil; neun Tage und neun Nächte hing er dort am Baum, dem Tode näher als dem Leben. Und als er erkannte, dass niemand ihm helfen würde, da begriff er, und er bäumte sich auf und wurde eins mit dem Universum, und vor seinen Augen erschienen die Runen, die Urformen des Lebens; schreiend begriff er sie, und der Ast des Baumes, an dem er hing, brach, und Ygg fiel zur Erde nieder.

Aus dem Ast des Weltenbaumes schuf er sich einen Speer, und in den Speer ritzte er die Runen ein und färbte sie mit seinem Blut. So gewann er Macht über das Gesetz der Natur und band es an sich, in einem Pakt, den keiner zu brechen vermochte, der unter diesem Gesetz geboren ist.

Dann kehrte er zurück nach Asgard, und alle, die ihn sahen, beugten das Knie vor ihm, und Tyr selbst bot ihm seinen hohen Sitz an. Als Allvater nahm er dort Platz und ließ sie schwören, Asen und Wanen zugleich, beim Speer des Gesetzes. Und als sein Blick über die Versammlung ging, bannte er sie alle mit seinem funkelnden Auge. Denn sein zweites Auge liegt nun in den Tiefen von Mimirs Quell und schaut auf ewig in das Innere der Welt.

Das war der Preis der Weisheit.«